Ortslagen verschwinden oder geraten in Vergessenheit

oder: Nur vom ‚gucken‘ lernt man das Fahren und wird ein guter „Schipper“

Der Rhein war eigentlich schon immer in Kilometern eingeteilt. Bereits 1806 begann das. Die heutige Kilometrierung besteht seit 1939. So stehen in Deutschland an beiden Ufern die vollen Kilometer gut sichtbar auf großen Schildern (Betonplatten). Je halben Kilometer ein großes Kreuz und sogar jeder Hunderter in Ziffern (1-9). Hier nachzulesen….

Die Zeichen waren aber nur bei guten Sichtverhältnissen und nicht nachts zu erkennen. So wurden also nicht die Kilometer bei Informationen und Kursabsprachen über Funk genannt, sondern man hat s.g. Ortslagen und Gründe genannt. Das sind markante, eindeutige Orte oder Besonderheiten in der Topographie (Hochspannungsleitungen, Brücken, Felsen, Untiefen, „Hänge“ und „Orte“, Gründe, Häuser, Bach-/Flußmündungen…) Die Ortslagen kannte jeder Schipper auswendig. Dies ändert sich leider, wie im späteren Verlauf dieses Artikels noch erwähnt.

Bis heute werden Ortslagen bei der Rheinpatentprüfung abgefragt.

Der Prüfungsteil Fahrwasserkunde dauert 60 Minuten, in der man zu seiner Patentstrecke abgefragt wird.

„Sie fahren in … los. Es geht zu Tal. Beschreiben Sie was Sie rechts und links sehen“.
Jetzt werden die Ortslagen erwartet.

Es ist so ein bisschen wie bei den Bobfahrern, die mit geschlossenen Augen vor dem Start die Strecke nochmal abfahren.

Beispiel einer noch bestehenden Ortslage ist das Restaurant ‚Wacht am Rhein‘. Kilometer 811,3 am linken Ufer. Als die alte Rheinbrücke Wesel noch stand (die Brückenpfeiler standen im Fahrwasser), war Wesel ein Nadelöhr (eine Schxxx Kurve). Höhe ‚Wacht am Rhein‘ musste sich die Talfahrt über Funk melden. Es gab ein Begegnungsverbot für Verbände. Der Bergfahrt musste unterhalb warten.

Beispiele für Ortslagen, die es nicht mehr gibt, aber über Funk noch zu hören sind.

Bei km 784,5 gibt es linksrheinisch die Ortslage ‚Haus Gerdt‘. Es war eine Gaststätte, die vor ein paar Jahren abgerissen wurde. Die Ortslage wird aber weiterhin genutzt.

Noch schöner finde ich folgende Ortslage. Das ‚Rote Häuschen‘ bei km 840,2, ebenfalls linksrheinisch. Hier sind wir im tiefsten Niederrhein, wo fast alles über viele Kilometer gleich aussieht. Jede Besonderheit wurde zu einer Ortslage und dankbar angenommen. So auch dieses Haus mit rot gedecktem Dach. Das Haus gibt es noch, ist aber nicht mehr vom Wasser aus sichtbar, der der Deich erhöht wurde. Die Ortslage wird von älteren ‚Schippern‘ aber immer noch genannt.

Beispiel für eine Ortslage die nun einen anderen Namen trägt

Bei km 752 (linkes Ufer) ist die Ortslage „Steinerne Bänke“. Die gibt es zwar noch immer, aber mit der Fertigstellung der dortigen Autobahnbrücke A44 am Düsseldorfer Flughafen, wurde sie praktisch in die Ortslage Flughafenbrücke umgetauft. Die „Steinerne Bänke“ sterben so zusagen aus. Anders gesagt, sie gehen in den Ruhestand 🙂

Alte Notizen von mir, die Ortslagen zeigen. Ich hatte immer Glück und Schiffsführer, die bereit waren ihr Wissen weiterzugeben.

Erwin B. z.B. hatte noch im elterlichen Betrieb Schleppschifffahrt gelernt und kannte jeden Stein und dazu auch noch spannende Geschichten. Insbesondere in der Gebirgstrecke mit den Burgen, Untiefen, Felsen und Gründe wirklich spannend.

Die „7 Jungfrauen“, „Großer und Kleiner Leisten“, „Wispergrund“ … Namen die die Fantasie beflügeln?

Aber leider ändert sich hier etwas, was nicht nur schade, sondern auch bedenklich ist

Alle Schiffe müssen heutzutage mit AIS ausgerüstet sein und fahren mit Hilfe des Kartenplotters. Bei Bedarf (z.B. einer Kursabsprache über Funk) wird nur noch der Kilometer abgelesen und genannt. Die Ortslagen ‚verschwinden‘ zunehmend.

Dieser Trend ist aus meiner Sicht bedenklich, denn Ortslagen sind eindeutiger als Kilometerangaben.

Wenn ich sage ich bin oberhalb der Wassertürme zu Tal, dann ist das fix und klar. Sagt einer bei Kilometer 787, könnte ich es falsch verstehen oder muss erst selber auf den Kartenplotter schauen. Insbesondere bei Nebel bedenklich!

Was fällt noch auf? Wenn wir früher ‚Luft‘ im Tagesablauf an Bord hatten, haben wir oben im Steuerhaus gesessen (sitzen müssen) und Kaffeepause gemacht.

Wir haben raus geschaut und uns so die Ortslagen gemerkt. Manche, noch aktiven Schiffsführerkollegen erzählen mir, dass dies nicht mehr selbstverständlich ist.

Schade, denn so sterben Ortslagen wohl aus.

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